Schicksalsjahr 2020
Dieses Jahr 2020 wird niemand von uns vergessen. Es wird als das Corona-Jahr in die Geschichte eingehen und jeder von uns kann sagen: Ich bin dabei gewesen. Auch in der 2000- jährigen Kirchengeschichte hat es das noch nicht gegeben: Öffentliche Gottesdienste auf Wochen hinaus verboten. Nicht einmal in Kriegszeiten war das so. Und auch das ist einmalig: All diese massiven Eingriffe in die Freiheitsrechte sind nicht etwa durch diktatorische Willkür geschehen, sondern aus Einsicht in die Empfehlungen der Wissenschaft. Wir alle haben auf Epidemiologen und Virologen gehört, wir sind wochenlang zu Hause geblieben und haben im Stillen Gottesdienst gefeiert oder im Fernsehen geschaut. Wir alle haben dazu beigetragen, Leben zu schützen. Milliarden von Menschen haben sich in ihrer Freiheit einschränken lassen und tun es noch, um Menschenleben zu retten. Wir haben uns auf so etwas wie eine neue Normalität eingerichtet – bis ein zuverlässiger Impfschutz wiederum eine neue Zeit einläuten wird.
Eine neues Leben nach Corona
Doch werden wir dann einfach so weitermachen wie vorher? Was bleibt nach Corona 2020? Ich stelle mir vor, es wäre im Jahr 2030 und wir könnten auf die kommenden 10 Jahre zurückschauen.
Eine neue soziale Marktwirtschaft
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die die alten Gegensätze hinter sich gelassen hat. Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind bereits jetzt gewaltig und sie treffen uns alle. So wichtig es war, zu Beginn der Krise von systemrelevanten Berufen zu sprechen und etwa Altenpflegerinnen und Rettungssanitäter, Ärztinnen und Feuerwehrleute besonders hervorzuheben und ihnen Wertschätzung entgegen zu bringen: Wir alle sind aufeinander angewiesen, wir alle sind „die Wirtschaft“. Die Einzelhändlerin in der Herstallgasse genauso wie der Arbeiter bei Linde, die Journalistin beim Main-Echo ebenso wie der Zahnarzt mit eigener Praxis, die Verkäuferin im Discounter in gleicher Weise wie der Betreiber des Colos-Saals? Unsere Wirtschaft im Jahr 2030 ist also eine soziale Marktwirtschaft, in der bei allen Interessensunterschieden jeder seine Systemrelevanz hat. Gott hat jedem von uns unverwechselbare Charismen geschenkt, die ihn oder sie unverzichtbar machen. Wir brauchen einander – auch die Starken die Schwachen, auch die Vermögenden die Armen - und im Jahr 2030 ist uns das allen bewusst.
Ein solidarisches Europa
Ich wünsche mir ein starkes Europa mit tausenderlei Facetten aber einem gemeinsamen Bewusstsein. Manche Äußerungen in den vergangenen Wochen waren mehr als verstörend. Die nächsten Wochen und Monate sind entscheidend. Wird es uns gelingen, die auseinander driftenden Teile einzufangen? Wird der europäische Geist gegen die Nationalismen bestehen können? Wird man einsehen, dass man Einigkeit und Stärke, Wohlergehen und Glück nicht kaufen, sondern letztlich nur in zähem Ringen erreichen kann? In einem Europa 2030 wird es weiterhin soziale und mentale Unterschiede geben, aber sie werden uns nicht mehr voneinander trennen. Wir werden auch künftig vor großen Herausforderungen stehen, aber eine Schließung der Grenzen wird niemals mehr ein Mittel der Wahl sein. Die Gemeinschaft der europäischen Völker wird sich auf ihre gemeinsamen christlichen Wurzeln besonnen haben und wie Geschwister im Geiste miteinander umgehen. Nicht immer ein Herz und eine Seele, doch stets wie Bruder und Schwester.
Eine Welt mit ökologischem Bewusstsein
Der Turbokapitalismus macht derzeit Pause, doch seine hässlichen Auswüchse bleiben. Alles hängt mit allem zusammen. Das zeigt uns die Krise jeden Tag und die viel zitierten Lieferketten sind dabei nur ein kleiner Ausschnitt. Wir erkennen: Wer dauerhaft auf Kosten anderer lebt, schadet sich am Ende selbst. Klimapolitik ist Weltpolitik und kein Modewort. Ich blicke im Jahr 2030 auf eine Welt, die immer noch darüber staunt, welch ungeheure Kraft die Weltgemeinschaft entfalten kann, wenn sie zusammenarbeitet. In zehn Jahren sind also die Klimaziele für die nächste Dekade erreicht, die weltweiten Nachhaltigkeitsziele ebenso, und „Fluchtursachen bekämpfen“ ist keine leere Formel mehr. Die Weltgemeinschaft hat endlich erkannt, dass es eine starke UN braucht, um Konflikte friedlich beizulegen und Streit um lebenswichtige Ressourcen klug zu moderieren. Im Jahr 2030 sind auch die deutschen Rüstungsexporte um die Hälfte zurückgegangen, weil etwa Handfeuerwaffen in den Händen von Bürgerkriegsparteien endlich als das angesehen werden, was sie sind: Eine nationale Schande. Gott hat uns diese Schöpfung anvertraut, damit wir sie bebauen und bewahren. Nie war uns diese Einsicht bedeutsamer als in Zeiten einer Pandemie. Wir Menschenkinder sind als Geschöpfe Gottes Teil dieser einen Welt und niemals ihr Herrscher. Das Virus hat uns nicht nur das Fürchten sondern auch eine neue Bescheidenheit gelehrt.
Eine neue Freiheit
Während ich diese Zeilen schreibe, ist die Corona-App noch Zukunftsmusik. Doch schon jetzt ist klar, welche Chancen und Gefahren die Digitalisierung im Gepäck hat. Gerade weil unsere Freiheitsrechte wochenlang massiv beschnitten worden sind, sind sie uns ganz neu wichtig geworden und achten wir sorgsam auf ihre Einhaltung. Datenschutz ist kein Luxusgut und individuelle Freiheit ebenso wenig. In zehn Jahren blicken wir zurück auf eine Welt, die bewiesen hat, dass pluralistische Staaten nicht nur menschenfreundlicher sind als repressive, sondern auch effizienter. Im Jahr 2030 gehört der offenen Gesellschaft die Zukunft und nicht dem Überwachungsstaat. Mancher politische Selbstdarsteller wird in zehn Jahren nur noch eine peinliche Randnotiz der Geschichte sein und diverse Verschwörungsszenarien im Netz so wahrhaftig wie schwarze Magie im Mittelalter. Die neue Freiheit aber wird uns umso wichtiger sein, denn nicht nur Christen haben erkannt: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“
Eine mutige, zuversichtliche und einladende Kirche
Mir ist nicht bang um unsere Kirche. Ja, Gottesdienstverbote taten weh. Und ausgefallene Chorproben, Seniorenkreise und Kindergruppen, abgesagte Freizeiten und ins nächste Jahr verschobene Jubelkonfirmationen schmerzen immer noch. Doch weil unser Glaube der Sieg ist, der die Welt überwunden hat, habe ich keine Angst. Weder um mich persönlich noch um uns alle. Ich lebe und arbeite in zehn Jahren in einer evangelischen Kirche, die mutig und konsequent ihre Stimme erhebt für die Schwachen und Einsamen, Ausgegrenzten und Gedemütigten, Kranken und Sterbenden. Eine Kirche, die in der Nachfolge ihres Herrn dadurch so zeitgemäß und nah bei den Menschen ist wie keine andere Institution. Eine Kirche, die die letzten Reste von Privilegien abgelegt hat und in ökumenischer Geschwisterlichkeit weltweit eine Vorreiterin in Friedensarbeit und Bewahrung der Schöpfung, Generationengerechtigkeit und Schutz der Familien vor Ausbeutung und Hunger ist. Eine Kirche, die das Gespräch zwischen den Religionen fördert und eine starke Anwältin für Religionsfreiheit weltweit ist. Eine Kirche, in der es Freude macht, in ihr zu arbeiten, weil sie ausstrahlt, was sie verspricht: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“
Autor: Rudi Rupp, Dekan
Ich glaube, dass Gott in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste die Angst vor der Zukunft überwunden sein.
Dietrich Bonhoeffer
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